Wie misst man Lebensqualität?

Die Frauenärztin will gerade Feierabend machen, da landet noch die Mail einer Patientin in ihrem E-Mail-Fach: 30 Seiten über Krebstherapien hat sich die Patientin im Internet zusammengeklaubt, mit der Bitte um fachkundige – und schnelle – Einschätzung. Ein typisches Beispiel für das gewandelte Verhältnis zwischen Behandlern und Behandelten.

„Halbgott in Weiß“ war früher einmal: Der Arzt, der kraft seiner Ausbildung und Erfahrung als derjenige, der alleine zu bestimmen hatte, was das Beste für seinen Patienten ist. Heute haben Patienten vor allem über das Internet Zugriff auf vielfältige Gesundheitsinformationen noch zu den seltensten Krankheiten und den exotischsten Therapien. Sie finden Fundiertes und Fragwürdiges – und ein Großteil nutzt diese schier unerschöpfliche Quelle auch. Einige Ärzte fühlen sich von ihren Patienten geradezu ausgetestet und abgeprüft.

Aber nicht allein das Internet wirkt sich aus auf die Rollenverteilung. Durch den patienten- und ergebnisorientierten Blick der Versorgungsforschung hat sich auch in der Medizin ein neues Bewusstsein für die Patientinnen und Patienten entwickelt. Denn was nützen beispielsweise perfekt eingestellte Blutzuckerwerte, wenn sich zeigen lässt, dass dies gar nicht wie erhofft Folgeerkrankungen verringert, der Patient aber subjektiv unter der Behandlung leidet? Parameter wie Lebensqualität und Zufriedenheit der Patienten gelten deshalb zunehmend als relevant – die US-Arzneimittelbehörde FDA hat sie beispielsweise 2006 ausdrücklich als ein Kriterium bei der Beurteilung neuer Medikamente zugelassen.

Prof. Dr. Martin Scherer, kommissarischer Direktor des Instituts für Sozialmedizin in Lübeck und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), sagt: „Manche sagen, Lebensqualität sei nicht messbar, auch weil die vorhandenen Studien Daten zu sehr funktionsbezogen erheben. So wird ein Rollstuhlfahrer bei Fragen nach seiner Mobilität vieles verneinen müssen. Er kann etwa keine Treppe, wohl aber den Fahrstuhl benutzen und hat sich möglicherweise sehr gut mit seinen Einschränkungen arrangiert. Ich bin der Meinung, man kann und man muss die Lebensqualität des Patienten auf jeden Fall erfassen und in die Forschung miteinbeziehen. Für die Beurteilung einer medizinischen Behandlung ist die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität mindestens so wichtig wie rein medizinische Parameter. Was bringt es, wenn der Blutzuckerwert optimal, die dafür notwendigen Einschränkungen im Alltag aber die Lebensqualität massiv einschränken? In jedem Fall ist die Erhebung der Lebensqualität ein stark wachsender Forschungsbereich und in der klinischen und der Versorgungsforschung nicht mehr wegzudenken.“

Lebensqualität und Zufriedenheit, das sind interpretierbare Begriffe. Zum Beispiel sind viele Menschen, deren Körper vollständig gelähmt ist, glücklich, wie jüngst eine Studie der belgischen Universität Lüttich zeigte. Gefangen im eigenen Körper, ständig angewiesen auf Überlebenshilfe durch Menschen und Maschinen – das Schicksal von Patienten mit dem seltenen Locked-In-Syndrom erscheint extrem schwer zu ertragen. Vollständig gelähmt, verfügen sie gleichzeitig über einen wachen, voll funktionsfähigen Geist. Die Befragung durch die belgischen Mediziner bestätigte im Februar 2011, was Fachleute seit langem betonen: Viele der im eigenen Körper Eingeschlossenen sind durchaus glücklich, trotz ihrer schwierigen Lebensumstände. Im Online-Fachmagazin „BMJ Open“ berichten die Forscher um den Neurologen Steven Laureys, dass 65 Patienten umfassend geantwortet hätten. 72 Prozent hätten sich selbst als glücklich bezeichnet, 28 Prozent als unglücklich.

Dabei steckt für die Versorgungsforscher der Teufel allerdings im methodischen Detail: Blutwerte lassen sich objektiv feststellen – aber wie misst man, wissenschaftlich sauber, Lebensqualität? Findet man nun positive Effekte, welcher Art auch immer – wie kann man sicher sein, dass die Therapie selbst die Ursache war? Dass der Wirkstoff und nicht der Placeboeffekt, die eigentliche Behandlung und nicht allein die ärztliche Zuwendung den Ausschlag gab? „Nutzen wissenschaftlich exakt festzustellen und zweifelsfrei auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen, ist schwer“, benennt der Kölner Versorgungsforscher Holger Pfaff das Problem ganz allgemein. Es ist eine der großen Herausforderungen der Versorgungsforschung.

Patienten und ihr Erleben werden aber nicht nur zum Maßstab, wie erfolgreich eine Therapie war. Auch um die oft beschworene Prävention zu stärken, müssen die Menschen zur Mitwirkung gewonnen werden. Und schließlich sollen sie als Betroffene auch verstärkt mitentscheiden, wie im Krankheitsfall behandelt wird. „Shared decision making“, also partnerschaftliche Entscheidungsfindung, lautet ein häufiges Schlagwort in Studien zur Zukunft des Gesundheitssystems. Forscher sprechen vom Patienten als „Ko-Therapeuten“ oder „Ko-Produzenten seiner Gesundheit“. Der Sachverständigenrat fordert für Patienten „empowerment“: Gerade chronisch Kranke sollen, im Rahmen von Disease Management-Programmen (Chronikerprogrammen), in ihrer Kompetenz unterstützt werden, sich und ihre Krankheit selbst zu managen.

Mehr Verantwortung setzt freilich mehr Wissen voraus. Wie schafft man also die Grundlagen dafür, dass Patienten zu mündigen Partnern im Gesundheitssystem werden – ohne dass der Arzt erst 30-seitige Mails beantworten muss? Auch diese Frage wird die Versorgungsforscherinnen und -forscher noch eine Weile beschäftigen.

 

Weitere Informationen unter:

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung

Deutsche Gesellschaft für Public Health e.V. (DGPH)

 

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