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Freiheit heute
Wissenschaftsfreiheit ist
nicht selbstverständlich

Oder: Warum es sich lohnt, sich an einige Erfahrungen aus dem vergangenen Jahrhundert immer wieder mal zu erinnern.

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Kuratoriumsmitglied im Wissenschaftsjahr 2024.

Ich bin im ummauerten West-Berlin 1962 geboren worden und dort auch bis zum Abitur aufgewachsen. Schon an der Schreibweise meiner Geburts- und Heimatstadt wurde deutlich, dass man auch im Zuge der Entspannungspolitik der Siebziger Jahre den Kalten Krieg noch nicht ganz hinter sich gelassen hatte. Die offizielle Schreibweise der Stadt, beispielsweise in Texten aus dem Rathaus Schöneberg, in dem damals das Abgeordnetenhaus genannte Landesparlament saß, war: Berlin (West). Fuhr man über die Transitstrecken auf der Autobahn von Westdeutschland ins westliche Berlin, stand in der DDR auf den Wegweisern „Westberlin“. Daneben gab es noch: Berlin, Hauptstadt der DDR.

Schon dem West-Berliner Schüler war deutlich, dass es Probleme mit der Wissenschaftsfreiheit im östlichen Nachbarland gab und gegeben hatte: Irgendwann zeigte mir mein Vater, der 1957 illegal von einer Assistentenstelle an der Leipziger, damals nach Karl Marx genannten Universität an die West-Berliner Freie Universität gewechselt war, ein Schreiben des Staatssekretariates für Hochschulwesen der DDR, das an ihn gerichtet war und meiner Erinnerung nach aus dem Jahr 1955 stammte. Da stand zu lesen, dass eine Habilitation von Hans Lothar Markschies derzeit nicht möglich sei, weil er sich noch nicht genügend in der fortschrittlichen Wissenschaft kundig gemacht habe.

Mit der fortschrittlichen Wissenschaft war natürlich eine Literaturwissenschaft auf der Basis des Marxismus-Leninismus gemeint, die in den fünfziger Jahren an der Leipziger Universität durchgesetzt werden sollte gegen eine „bürgerliche“ Wissenschaft. Einzelne von deren Exponenten (wie beispielsweise 1947 Hans-Georg Gadamer) hatten die Leipziger Universität schon verlassen, andere (wie Hermann August Korff, der germanistische Lehrer meines Vaters) hielten tapfer durch. Nach der Lektüre des Briefes, der staatlicherseits Defizite in der fortschrittlichen Wissenschaft konstatierte, bemühte sich mein Vater von Stund an um eine Assistentenstelle im Westen und dort um Gelegenheit zur Habilitation.

Einer meiner verehrten akademischen Lehrer in Tübingen, der evangelische Theologe Eberhard Jüngel (1934-2021), erzählte gern, wie er kurz vor dem Abitur 1952 vom Magdeburger Domgymnasium flog, weil er ein Abzeichen der damals von den Oberen der DDR verbotenen Jungen Gemeinde trug, ein Kreuz auf einer Weltkugel. In der Aula wurde er vor der versammelten Schülerschaft als reaktionärer „Feind der Republik“ bloßgestellt und musste daher eine Art kirchliches Ersatzabitur ablegen (an einem sogenannten kirchlichen Unterseminar), das nur zum Studium der Theologie an einer kirchlichen Hochschule berechtigte (die nicht „Kirchliche Hochschule“ heißen durfte und auch nicht staatlich lizensiert war, sondern verschämt „Kirchliches Oberseminar“ genannt wurde).

Jedes Mal, wenn ich Geschichten meiner akademischen Lehrer und meines Vaters hörte, wurde ich sehr, sehr dankbar. Ich bin in einem Land aufgewachsen, in der mich die Freiheit des Worts und der Wissenschaft nie etwas gekostet hat.

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies
Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Erst nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft nostrifizierte der erste frei gewählte Kultus- und Wissenschaftsminister der DDR, der jüngst gestorbene Hans Joachim Meyer (1936-2024), die kirchlichen Ersatzabiture, die Studienleistungen und die Dissertationen wie Habilitationen des sogenannten kirchlichen Lehramtes. Nun endlich durften die Sprachenkonvikte und kirchlichen Oberseminare auch tatsächlich Kirchliche Hochschulen heißen und staatlich anerkannte Abschlüsse verleihen. Ich erinnere mich noch gut, wie Eberhard Jüngel einmal sagte, dass die Freiheit der Wissenschaft in der alten DDR vor 1989 eher an diesen Orten kirchlicher Ersatzausbildung bewahrt worden sei als an den staatlichen Universitäten mit ihrer vom Staatssekretariat für Hochschulwesen diktierten Orientierung an der angeblich fortschrittlichen Wissenschaft.

Ein Argument für diese Sichtweise könnte die Tatsache sein, dass es in den achtziger Jahren in der DDR einen einzigen nichtmarxistischen Philosophieprofessor gab – den durch pointierte Beiträge in der Öffentlichkeit bis heute weithin bekannten Richard Schröder, der als Dozent der kirchlichen Lehramts am kirchlichen Oberseminar in Naumburg und dann am Sprachenkonvikt in Ost-Berlin lehrte und erst nach 1990 ordentlich bestallter Philosophie-Professor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin wurde (und Fraktionsvorsitzender der SPD in der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer der DDR).

 

Jedesmal, wenn ich meine akademischen Lehrer und meinen Vater diese und andere Geschichten erzählen hörte, wurde ich sehr, sehr dankbar. Ich bin in einer Stadt und einem Land aufgewachsen, in der mich die Freiheit des Wortes und der Wissenschaft nie etwas gekostet hat. Mich hat in meinem bisherigen Leben noch nie jemand aufgefordert, mich für einen Abschlussgrad oder eine Position mit einer anderen, angeblich fortschrittlicheren Wissenschaft zu beschäftigen als der, mit der ich mich nun mal beschäftige. Ich kann über Ministerinnen und Minister klagen, einen Witz erzählen und niemand wird mir deswegen die Förderung entziehen oder mich gar ins Gefängnis werfen. Das wurde jüngst noch einmal sowohl durch Mitarbeitende des einschlägigen Bundesministeriums als auch durch die Hausleitung klargestellt.

Ich kann übrigens auch Dankbarkeit für Förderung gegenüber Ministerinnen und Ministern bezeugen und den Witz über mich selbst machen – aber auch das wird mir keine Vorteile bei akademischen Abschlüssen, Preisen und Förderentscheidungen bringen. Das ist nicht selbstverständlich, wie ein Blick in die deutsche Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts zeigt und aller Einsatz dafür, dass es in unserem Land selbstverständlich bleibt, ist aller Ehren wert.

In den erregten Debatten unserer Tage tut es vielleicht doch ganz gut, sich an den Geschenkcharakter der Wissenschaftsfreiheit mit gewisser Demut zu erinnern.

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies
Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Im Vorfeld des großen zweihundertjährigen Jubiläums der Berliner Universität Unter den Linden, die einst Friedrich-Wilhelms-Universität hieß und heute Humboldt-Universität genannt wird, war mir wichtig, die damals noch lebenden Studierenden einzuladen, die meine Universität 1948 wegen der dort bedrohten Wissenschaftsfreiheit verlassen hatten und die Freie Universität Berlin in den Westsektoren der Stadt gegründet hatten.

Als ich das historische Hauptgebäude Unter den Linden zu einer der Veranstaltungen betrat, saß auf der kleinen Bank vorn vor dem Hauptportal der Regierende Bürgermeister meiner Schülertage, Klaus Schütz (1926-2012, von 1967-1977 Regierender Bürgermeister). Danach wirkte er als deutscher Botschafter in Tel Aviv (1977-1981) und ich erinnere mich aus beiden Phasen gut an ihn. Er repräsentierte eine Periode sozialdemokratischer Stabilität vor eher unruhigen Phasen in der Geschichte meiner Heimatstadt. Schütz saß auf der Bank, weil er zu den Gründungsstudenten der Freien Universität gehörte.

 

Als ich seiner ansichtig wurde, ihn begrüßte und mich nach seiner Gesundheit erkundigte, antwortete er, wie sehr er sich freue, eingeladen worden zu sein und wie dies seine Gesundheit schlagartig gebessert habe. Auch Schütz gehört zu den Menschen, die sich in unserem Lande mit hohem persönlichen Risiko für die Wissenschaftsfreiheit eingesetzt haben (schließlich konnte noch niemand wissen, ob das Experiment der Freien Universität so gut gelingen würde, wie dies heute für alle sichtbar ist).

Von dem großen persönlichen Einsatz, dem Mut und der Risikobereitschaft eines Eberhard Jüngel, Richard Schröder oder Klaus Schütz zehre ich in gewisser Weise noch heute, mir ist die Wissenschaftsfreiheit unseres Landes unverdient in den Schoß gefallen. Ja, und ich bin auch hoffentlich geprägt vom Mut eines Hans Lothar Markschies, der ihn seinem Sohn mindestens weiterzugeben versucht hat. In den erregten Debatten unserer Tage tut es vielleicht doch ganz gut, sich an den Geschenkcharakter der Wissenschaftsfreiheit mit gewisser Demut zu erinnern.

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies

Als Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften untersucht Christoph Markschies den Einfluss von Strukturen des gegenwärtigen Wissenschaftssystems auf die Wissenschaftsfreiheit; als Professor für Antikes Christentum an der Humboldt-Universität zu Berlin und als Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum fragt er nach dem Zusammenhang von Freiheit und Religion in Geschichte und Gegenwart.

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Christoph Markschies

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2024 – Freiheit.​