W, 87, sucht Mitbewohner
Johann Lutterodt und Inge Ulrich wohnen seit Kurzem in einer WG. Das Besondere daran: Er ist 24, sie 87 Jahre alt. Ein Modell mit Zukunft.
Seit ihr Mann vor vier Jahren starb, bewohnte Inge Ulrich das große Anwesen in einem Konstanzer Villenviertel allein. Das rund 450 Jahre alte Haus am Bodensee bietet mit 300 Quadratmetern auf drei Stockwerken reichlich Wohnraum für eine Person. Zu viel, fand die alte Dame und suchte kurzerhand einen Mitbewohner. In der Studentenstadt sind günstige Zimmer knapp. Vor allem kurz vor Semesterbeginn müssen viele Neuankömmlinge mehrere Vorstellungsgespräche durchlaufen, um eines der begehrten WG-Zimmer zu ergattern.
Zu den Neuankömmlingen zählte in diesem Wintersemester auch Johann Lutterodt. Wie Tausende andere suchte der 24-jährige Informatikstudent kurzfristig eine Wohngemeinschaft für einen bezahlbaren Mietpreis. Johann hatte Glück - im Studentenwerk wurde er auf das Projekt "Wohnen für Hilfe" aufmerksam. Die Idee: Studierende wohnen mit Senioren zusammen und erhalten für eine Stunde geleistete Hilfe zehn Euro monatlichen Rabatt auf ihre Miete.
"Kommt mir bloß nicht mit einer Frau!"
Seit vier Wochen wohnt Johann nun mit Inge Ulrich unter einem Dach. "Ich hatte zuerst keine konkreten Vorstellungen davon, wie eine WG mit einer Seniorin funktionieren würde, aber als ich mir die Wohnung dann angeschaut und Frau Ulrich kennengelernt habe, war ich positiv überrascht", verrät der Student. Ein 50 Quadratmeter großer Wohnbereich mit eigenem Bad und Küchenzeile wird für die kommende Studienzeit sein Zuhause sein.
Inge Ulrich ist froh, dass es im Haus nicht mehr so ruhig ist: "Mein Sohn war schon besorgt, dass ich allein in diesem großen Haus wohne. Ich habe oft den ganzen Tag über niemanden gesehen - bis auf meinen Sohn." Dieser hat sein Büro im Erdgeschoss des Gebäudes und stattet seiner Mutter daher täglich einen Besuch ab.
An ihren zukünftigen Mitbewohner hatte Frau Ulrich klare Erwartungen: "Ich habe von vornherein gesagt: Kommt mir bloß nicht mit einer Frau!" Von einem männlichen Mitbewohner wünschte sich die 1925 geborene Hamburgerin Unterstützung im Alltag und bei der Gartenarbeit. Außerdem suchte die Rentnerin einen Mitbewohner, der ihr ab und an Gesellschaft leisten würde.
Voneinander lernen und profitieren
Genau hier setzt das 1992 ins Leben gerufene Projekt "Wohnen für Hilfe" an, das es seit April 2013 auch am Bodensee gibt. Die Initiative stößt vor allem in Studentenstädten auf große Resonanz. In Konstanz haben sich bislang 59 Studentinnen und Studenten sowie 18 potenzielle Vermieter für das Projekt registriert; sieben Wohnpartnerschaften konnten in den vergangenen Monaten bereits geschlossen werden. Die Erfahrungen der bisherigen WGs zeigen, dass es sich um ein Modell mit Zukunft handelt. Julia Eppler vom Studentenwerk Bodensee "Seezeit" ist von der Idee überzeugt: "Bisher sind alle Beteiligten erstaunlich zufrieden."
Bisher musste Johann - vom Austausch einer Glühlampe und Laubharken - nicht viel Hilfe leisten. Dennoch haben sich die beiden Mitbewohner bereits gut kennengelernt: "Wir sehen uns täglich ein bis zwei Stunden, um zu reden".
Bei Johanns Kommilitonen kam seine besondere Wohnsituation durchweg positiv an. "Die finden es gut, dass es solche Möglichkeiten gibt - sowohl für uns Studenten als auch für die Senioren."
Und Johann weiß Inges Lebenserfahrung zu schätzen: "Man kann viele Bücher lesen und Dokumentationen anschauen, aber Lebensgeschichten erfährt man am besten durch Gespräche." Inges Selbstständigkeit ist ein Vorbild für den Studenten: "Ich würde mich freuen, wenn ich im Alter noch so fit wäre." Auch Inges erste Bilanz nach vier Wochen fällt positiv aus: "Wir kommen bestens miteinander zurecht".