Mit KI zur vollautonomen Industrie?
Künstliche Intelligenz ermöglicht Autonomie, also Selbstständigkeit. Ein Prozess ist dann autonom, wenn er vom Menschen unabhängig Funktionen ausführt. Der Mensch gibt dabei die Systemgrenze und eine Ergebniserwartung vor. Die Plattform Industrie 4.0 hat diese Autonomie in sechs Stufen unterteilt – bis hin zu einem vollständig autonomen Betrieb der Produktion unter KI-Führung.
Schauen wir uns diese Theorie am Beispiel des Rotorblatts genauer an. Es ist kaum vorstellbar, welche Kräfte an den 25 Tonnen Glasfaser eines 85 Meter langen Rotorblatts moderner Windkraftanlagen wirken. Und unvorstellbar, was passiert, wenn etwas schieflaufen würde. Um auf Nummer Sicher zu gehen, wird deshalb in der Produktion jede Faser der Rotoren getestet.
Dafür braucht es eine aufwendige Qualitätsprüfung. In den Rotorblättern dürfen keine Schadstellen vorhanden sein. Das könnte zu Ermüdungsbrüchen führen. Dadurch kommt es zu großflächigen Abrissen, die das ganze Rotorblatt zerstören. Vermeiden sollen das Ultraschall-Scans der inneren Struktur. Die bisherige menschliche Inspektion nimmt jedoch viel Zeit in Anspruch. So benötigen Inspektoren bis zu sechs Stunden für ein Blatt am Werk, was viel Zeit kostet und durch auftretende Müdigkeit möglicherweise zu Fehlern führen kann.
Doch die Inspektorinnen und Inspektoren bekommen mittlerweile intelligente Hilfe, denn Künstliche Intelligenz (KI) unterstützt zunehmend die industrielle Produktion. Zukünftig soll der Mensch stärker in seinem Handeln unterstützt werden und weniger in sich wiederholende Abläufe eingreifen müssen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Autonomie senkt die Kosten, spart Zeit, verbessert die Qualität und erhöht die Robustheit industrieller Prozesse.
Johannes Kalhoff
Fachleiter im Corporate Technology & Value Stream bei Phoenix Contact und Leiter der Arbeitsgruppe 2, Technologie- und Anwendungsszenarien und der übergreifenden Projektgruppe Künstliche Intelligenz bei der Plattform Industrie 4.0
Dr. Thomas Gamer
Leiter einer Forschungsgruppe bei ABB und aktiv in der Projektgruppe Künstliche Intelligenz der Arbeitsgruppe 2 der Plattform Industrie 4.0
Dr. Bernd Kosch
Geschäftsführer der Industrie-KI und leitet in der Arbeitsgruppe für industrielle IT-Sicherheit eine Untergruppe für KI in Sicherheitsaspekten der Industrie 4.0.
Die Autonomie-Stufen
Die bisherige Qualitätskontrolle durch optisches Scanning ist eine rein menschliche Inspektion. Sie hat noch keinen Bezug zu KI und ist kein autonomer Vorgang und entspricht somit der Autonomie-Stufe 0.
In Autonomie-Stufe 1 assistiert das Inspektionssystem den Bedienenden beim Ultraschall-Scanning der Rotorblätter. Durch Ausschluss von „false negatives“ weist das KI-System auf mögliche noch zu klärende Fehlerstellen hin. Der Mensch muss nur noch einen kleinen Oberflächenanteil kontrollieren und entscheidet danach, ob an diesen Stellen Reparaturschritte notwendig sind.
In Autonomie-Stufe 2 listet das KI-unterstützte Beobachtungssystem die Fehlerstellen selbst auf, passt seine Scangeschwindigkeit der Oberflächenbeschaffenheit an und lernt während der Durchführung. In Zusammenarbeit mit KI-Profis werden den KI-Systemen neue Fehlerbilder zugewiesen. So verbessern sie die Genauigkeit und helfen der Inspektorin und dem Inspektor mögliche noch zu klärende Fehlerstellen schneller zufinden.
Zukünftig ließe sich bei diesem Qualitätssicherungssystem auch höhere Autonomie-Stufen erreichen - etwa in Kombination mit einem weiteren System, welches automatisch die entdeckten Fehler repariert. Hier spricht man dann von der Autonomie-Stufe 3 bis 5.
In Autonomie-Stufe 3 würden dafür bekannte Reparaturverfahren unter Kontrolle menschlicher Fachleute zur Anwendung kommen. Durch zusätzliche Lernphasen könnte das Gesamtsystem zu einem autonomen Herstellungs-Inspektions-Reparatursystem weiterentwickelt werden. Solche Systeme wären dann der Autonomie Stufe 4 zuzuordnen. Der Mensch würde nur noch in Ausnahmesituationen eingreifen. Ist das Gesamtsystem zudem in der Lage, die Fehlererkennung in allen Herstellungsphasen zu leisten oder auch auf andere Materialien zu übertragen, ohne die Notwendigkeit einer menschlichen Kontrolle, könnte dies ein System der Autonomie-Stufe 5 darstellen.
Bei aller Autonomie gibt der Mensch weiter die Spielregeln vor. Die Rolle des Menschen ist Grundlage der Autonomiestufen. Der Grad an Autonomie eines Systems unterliegt aber nicht notwendigerweise nur technischen Begrenzungen der KI. Auch Aspekte wie rechtliche Rahmenbedingungen, Abschätzung der Vor- und Nachteile des menschlichen Handelns oder Forderungen hinsichtlich Datensicherheit beeinflussen das System.
So wird für Menschen Zeit frei, die sie beispielsweise für die kreative Planung intelligenter Abläufe nutzen können. Doch die KI soll Menschen nicht ersetzen. Sie sollen vielmehr ihren Ideenreichtum für neue Herangehensweisen an technische Vorgänge nutzen können.
Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2019 – Künstliche Intelligenz.