Zukunft
Die Welt von Morgen: Die Straßen sind sauber und weit, Armut und Verbrechen beseitigt, Drogenabhängige und Kranke geheilt, Männer und Frauen verständnisvoll und ohne Hinterlist. Die Jugend ist gezähmt, die "Encyclopédie" Pflichtlektüre an den staatlichen Schulen. Der König, Ludwig XXXIV., wacht tugendhaft über die Gesetze. Vernunft und Moral, Bildung und Wissenschaft bestimmen die Herrschaft eines mündigen Volkes. Die Bastille ist abgerissen, das Ziel der Aufklärung, den Menschen zu bessern, verwirklicht. Derart perfekt stellte sich der französische Schriftsteller Louis-Sébastien Mercier das Leben im 25. Jahrhundert vor.
Als sein Roman "Das Jahr 2440" 1771 erschien, wurde er in Frankreich sogleich verboten. Ein Jahr darauf kam er in London auf den Markt und verbreitete sich von dort über ganz Europa. Bis 1789 – dem Revolutionsjahr – gab es 24 Neuauflagen. Das Geheimnis dieses Erfolges besteht aber nicht in der poetischen, progressiven oder prophetischen Wirkung der Worte, sondern in seiner für die damaligen Leser wegweisenden Vorstellungskraft.
Im Gegensatz zu den bis dahin veröffentlichten utopischen Visionen von Platon über Thomas Morus bis Francis Bacon ist das Paradies auf Erden hier nur mittels einer Zeitreise zu erreichen. Zum ersten Mal wird Zukunft gedacht und beschrieben – losgelöst von der christlichen Heilsgeschichte oder dem archaischen Glauben an die Schicksalsgebundenheit des Einzelnen. "Erst das philosophische Jahrhundert", heißt es im Grimmschen Wörterbuch, "als der Mensch aufhörte, die Zeitlichkeit der Ewigkeit entgegenzustellen und anfing, sich selbst im Ablauf des allgemeinen Geschehens zu sehen [...] hat die für uns so geläufige Abstraktion des Begriffes der zukünftigen Zeit [...] vollzogen."
Entscheidend bei der Bildung des Zukunftsbegriffes war die Erkenntnis der Einmaligkeit von historischen Ereignissen. Zuvor hatte sich das Rad der Geschichte in den Vorstellungen der Menschen im Kreis gedreht: In den neuen Dingen war stets das Alte leicht abgewandelt enthalten gewesen, und Prognosen hatten unter dem Vorbehalt gestanden, dass bei gleichen Bedingungen immer die gleichen Wirkungen eintreten müssten. Eine Geschichtsschreibung war unter diesen Bedingungen natürlich möglich. Doch erst die Vorstellung der Linearität der Historie hat eine Geschichtswissenschaft im eigentlichen Sinne ermöglicht.
Im christlichen Weltverständnis gab es allerdings trotz der zyklischen Grundverfasstheit ein lineares Moment: Ausgerichtet war alles teleologisch auf die Apokalypse, die aber weniger Zukunft als Ende der Welt bedeutete. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war der Glaube weit verbreitet, das Universum sei um das Jahr 4000 v. Chr. entstanden und werde um das Jahr 2000 n. Chr. untergehen. Die Berechnung basierte – in Analogie zu den sechs Schöpfungstagen – auf der Idee von sechs Weltentagen, die jeweils tausend Jahre umfassten. Danach sei mit dem Jüngsten Gericht zu rechnen. Selbst Reformatoren wie Martin Luther und Philipp Melanchthon waren aber der Ansicht, dass Gott, wie im Evangelium des Matthäus Kapitel 24, Vers 22 angekündigt, so gnädig sei, die Tage der Trübsal für die Auserwählten zu verkürzen.
Erst die Tiefe des zeitlichen Raumes, die sich dank der intensiven Erforschung historischer Quellen und der Etablierung von Astronomie, Geographie und Archäologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplinen zunehmend ausdehnte, stieß die Pforten für die Wahrnehmung der Zukunft auf. Das war ein Paradigmenwechsel auch für Philosophie, Politik, Wirtschaft und Kultur, für den Menschen selbst: Denn ohne Zukunft gäbe es kein Ziel, keinen Plan, keine Hoffnung – nichts, wofür es sich zu engagieren lohnte.
"Die Zukunft", schrieb der deutsche Dichter Johann Gottfried Herder 1797, "ist die Tochter der Gegenwart, wie diese der Vorzeit. Zwei Sätze liegen vor uns, um den dritten zu folgern. Wer jene beiden recht verstehet [...], hat keinen üblen Gebrauch von seiner Vernunft gemacht, die ja eben die Fähigkeit ist, den Zusammenhang der Dinge einzusehen und wie eins im andern steckt, eins durchs andere wird, zu schließen und zu erraten."
Diese Einsicht hinderte spätere Science-Fiction-Autoren, Regisseure, Wissenschaftler, Philosophen und Politiker nicht daran, kolossale Fehleinschätzungen zu treffen. Das Jahr 2000 überstanden die meisten weitgehend unbeschadet. 2001 gab es keine Odyssee im Weltraum. Und angesichts von absehbaren ökologischen und demographischen Krisen erscheint auch das von Mercier anvisierte Jahr 2440 plötzlich in weite Ferne gerückt. Die Zukunft ist immer noch offen. Aber sie ist kürzer geworden.
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